Selbsthilfe_Interview_Dr_Graf

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Interview Dr. med. Graf

Als Patient mit einer seltener Erkrankung ist man, wie schon häufiger auf meiner Internetpräsenz dargestellt, "Ein Waisenkind der Medizin". Betroffene Menschen haben häufig unzählige Arztbesuche hinter sich und verfügen trotz alledem über keine verbindliche Diagnose. Dieser Umstand hat mich animiert, hierzu einfach einmal ein Interview mit einem kompetenten Facharzt aus dem neurologischen Bereich einer Rehabilitationseinrichtung, welche unsere seltene Erkrankung behandeln kann, zu führen.

Interview zur Chiari Malformation und Syringomyelie mit Herrn Dr. med. Tilo Graf 

  • Hier möchte ich gerne zu den beiden seltenen Erkrankungen „Chiari Malformation“ und „Syingomyelie“ eine etwas andere Vorstellung und Präsentation zur Verfügung stellen.

Unser Neurologe und Spezialist Herr Dr. med. Tilo Graf aus dem Mittelbayerischen Rehabilitationszentrum in Bad Kötzting hat sich bereit erklärt in Form eines Interviews die beiden Erkrankungen vorzustellen. 

Herr Dr. med. Graf ist Chefarzt der Neurologie in Bad Kötzting. In der Reha Klinik wurden in den letzten 6 Jahren über 100 betroffene Patienten behandelt.


Diagnose ungewiss: Wie diagnostiziert man eine Chiari Malformation und eine Syringomyelie?

Dr. T. Graf: Die Untersuchung der Wahl sind moderne bildgebende Verfahren wie z.B. die Kernspintomographie (oder auch Magnetresonanztomographie (MRT) genannt). Dabei ist es sinnvoll diese Untersuchung bei einem Neuroradiologen, der auf die beiden Erkrankungen spezialisiert ist, durchführen zu lassen. Bei Bedarf können dann spezielle Untersuchungstechniken wie z.B. eine Liquorflussmessung ergänzt werden. Dies ist eine aufwändige Untersuchung, die nicht überall durchgeführt werden kann.

Diagnose ungewiss: wie komme ich zu einer der beiden seltenen, neurologischen Erkrankungen? Sind sie ansteckend oder vererbbar?

Dr. T. Graf: Ansteckend sind sie nicht, auch handelt es sich nicht um Erbkrankheiten. Die Chiari-I-Malformation ist bei einigen Menschen angeboren, wobei man auch verschiedene Situationen kennt, die erst im Laufe des Lebens zu einer Chiari-I-Malformation führen können.Die Syringomyelie entsteht wohl in Folge einer Liquorflussstörung wie man sie bei einer Chiari Malformation, aber auch bei anderen angeborenen Veränderungen findet oder auch nach einem Unfall mit Wirbelsäulen- / Rückenmarkverletzung oder nach einer Rückenmarkentzündung. Ein weiterer Auslöser für eine Syringomyelie kann ein Rückenmarktumor sein.

Diagnose ungewiss: Was ist der Unterschied zwischen Chiari Malformation Typ I und Typ II – Typ IV?

Dr. T. Graf: Man kann verschiedene Krankheitsbilder unterscheiden die als Chiari Malformation 0 - V bezeichnet werden. In der Regel handelt es sich um angeborene Fehlbildungen am Hinterhaupt bzw. am Übergang vom Gehirn bzw. Kleinhirn zum Rückenmark. Dabei beschreiben die Ziffern verschiedene anatomische Verhältnisse. Bei einigen der Erkrankungen kommt es zu einer Liquorflussstörung, zum Teil liegt gemäß Definition auch eine Meningomyelozele, also ein „offener Rücken“, vor.  

Diagnose ungewiss: Meine Symptome und die daraus resultierenden Beeinträchtigungen können sehr vielfältig sein. Hängt das auch von den zu Grunde liegenden Ursachen ab?

Dr. T. Graf: Das kann gut sein. Besteht z.B. eine Chiari Malformation Typ I, so sind häufig die ersten Symptome Kopfschmerzen am Hinterhaupt.Liegt ein Rückenmarktumor zu Grunde ist das erste Symptom oft ein Schmerz, der einer oder mehreren Nervenwurzeln zugeordnet werden kann, eine Gangstörung oder auch eine Lähmung.

Diagnose ungewiss: Welchen Verlauf nimmt die Syringomyelie bzw. die Chiari Malformation?

Dr. T. Graf: Wie die meisten seltenen Erkrankungen verläuft auch die Syringomyelie chronisch. Bei bis zu 60% der Betroffenen zeigt sich im Verlauf eine Zunahme der Beschwerden, in ca. 25% der Fälle sind die Beschwerden stabil – gleichbleibend. Noch seltener zeigt sich im Verlauf eine Abnahme der Beschwerden. 

Diagnose ungewiss:  Wie entwickeln sich die Symptome der Erkrankung, bzw. wie ausgeprägt sind diese?

Dr. T. Graf:  Im Einzelfall lässt sich das nie sagen. In einigen Untersuchungen zeigte sich, dass im Verlauf der Erkrankung bis zu 100% der Probanden eine Gangstörung entwickelten. Schmerzen fanden sich bei den Untersuchten bei fast 90%. Fast 80% der Patienten berichteten in manchen Untersuchungen über Missempfindungen und weitere 56% litten an einer Blasenstörung. 

Diagnose ungewiss:  Sind diese Zahlen/Untersuchungen repräsentativ? Können Sie diese ins Verhältnis der bei Ihnen behandelten Patienten bringen?

Dr. T. Graf: Unsere Beobachtungen decken sich weitestgehend mit den Angaben aus den Untersuchungen. So gaben von unseren 50 zuletzt behandelten Syrinx-Betroffenen 45 (90%) an, sehr oft oder oft unter Schmerzen zu leiden und nur einer gab an nie Schmerzen zu haben. 
Weitere 72% (36 der 50 Betroffenen) beklagten eine Gangstörung, 70% berichteten über Blasenstörungen und 44% über Missempfindungen.Es ist einleuchtend, dass all diese Symptome den Alltag der Betroffenen stark beeinträchtigen können.

Diagnose ungewiss: Welche Symptome kann man den beiden Krankheitsbildern zuordnen? Es ist doch oft schwierig, wenn einen der eigene Haus – oder Facharzt nicht ernst nimmt.

Dr. T. Graf: Bei seltenen Erkrankungen spürt der Betroffene, dass etwas nicht stimmt, doch keiner der vielen aufgesuchten Ärzte hat zunächst eine Erklärung. Was daran liegt, dass kein Arzt alle seltenen Erkrankungen im Blick haben kann. Immer wieder haben Mediziner dann den Reflex, für etwas was sie zunächst nicht verstehen, die Psyche des Patienten verantwortlich zu machen. Dieses Denken der Ärzte ist nicht ganz verwunderlich. Heißt doch eine der am häufigsten zitierten "Weisheiten" die Medizinstudenten vermittelt bekommen: "Häufiges ist häufig und Seltenes ist selten." Dann kann es sogar passieren, dass mangels Erklärung, von so vielen Seiten immer wieder die Psyche für die Beschwerden verantwortlich gemacht wird, bis irgendwann der Betroffene selbst dies nicht mehr ausschließt.Da darf ich mich nicht ausnehmen. Auch ich kenne diesen Reflex. Immer wieder muss auch ich mir klar machen, was ich ebenfalls gelernt habe: "Der Patient hat immer recht."

Zu den Symptomen bzw. Beschwerden kann ich sagen, dass diese sehr vielseitig sein können. Auftreten können z.B.:
• Starke scharfe, brennende oder dumpfe Schmerzen in Schultern, Kopf, Nacken und in den Armen, migräneartige Kopfschmerzen
• Sensibilitätsstörungen wie eine verminderte Wahrnehmung von warm (heiß) und kalt
• Berührungsempfindlichkeit der Gliedmaßen und anderer Körperregionen
• Störung der Tiefensensibilität (die anzeigt, in welcher Stellung sich der Körper oder die Gliedmaßen zueinander befinden)
• Missempfindungen in den Gliedmaßen wie Kribbeln oder Stechen
• Fehlregulationsbedingte Durchblutungsstörungen
• verlangsamte Wundheilung
• Krämpfe (z.B. Muskelspasmen), Muskelzuckungen (Faszikulationen)
• Lähmungserscheinungen bzw.  Lähmungen, Verminderung der Muskelmasse (Muskelatrophie)
• Schwindel und Koordinationsstörungen
• Gangunsicherheit
• Sehstörungen
• Doppelbilder
• Lichtempfindlichkeit
• Schluckbeschwerden, Zungendysfunktion
• Inkontinenz von Blase und Darm bis hin zur Lähmung des Blasen- bzw. Schließmuskels
• Impotenz, abnehmende Libido, sexuelle Funktionsstörungen
• temporäre Gedächtnisstörungen (bzw. Wortfindungsstörungen)
• Ermüdungszustände, allgemeine Kraftlosigkeit, Neigung zu schneller Erschöpfung
• Schlaflosigkeit, depressive Verstimmung (bis hin zur Depression)

Diagnose ungewiss: Oft sind die einzelnen Beschwerden so paradox, dass man selbst an sich zweifelt und oder anfängt die Symptomatik in Frage zu stellen oder sich anfängt zu kontrollieren. Was raten Sie in solchen Fällen Ihren Patienten?

Dr. T. Graf: In erster Linie sollte der Patient sich und seine Beschwerden ernst nehmen. Egal was das Umfeld sagt und denkt. Es kann sich auch niemand gänzlich in einen Betroffen hineinfühlen oder in die Situation hineindenken. Man handelt instinktiv nach seinem Bauchgefühl und das ist oft gut so.Wichtig ist es Ärzte zu haben, denen man vertraut und die mit den Syrinx Spezialisten zusammenarbeiten.

Diagnose ungewiss: Wann raten Sie zu einer OP? Oft rät der erst behandelnde Neurochirurg zu einer OP.

Dr. T. Graf: Eine Operation ist natürlich dann notwendig, wenn man z.B. einen Tumor als Ursache der Syringomyelie findet. Auch bei Vorliegen einer Chiari-I-Malformation wird man eher zur Operation raten. 
Grundsätzlich ist aber bei Vorliegen einer Syringomyelie in der Regel das Ziel einer Operation einen Stillstand der Erkrankung zu erreichen, also eine Zunahme der vorhandenen Beschwerden zu vermeiden. Das bedeutet man stellt die Indikation zur Operation dann, wenn man den Eindruck hat, dass die Beschwerden zunehmen. Das bedeutet aber auch, dass eine OP trotz Beschwerden häufig nicht indiziert ist, nämlich dann, wenn die Beschwerden zwar da sind, aber nicht zunehmen. Dann ist für die Betroffenen die Therapie bzw. der Umgang mit den bestehenden Beeinträchtigungen ein wichtiges Anliegen. 
Im Vorfeld sind deswegen regelmäßige Verlaufskontrollen wichtig. Der Patient macht, je nach Krankheitsverlauf und in Absprache mit seinem Neurochirurgen halbjährlich, jährlich oder alle zwei bis drei Jahre eine Verlaufskontrolle. 
Diese Verlaufskontrolle sieht folgendermaßen aus: in der Neuroradiologie wird ein Termin zum MRT ausgemacht. Mit diesen Bildern geht der Patient zum Neurochirurgen. Dort wird über die weitere Vorgehensweise gesprochen.

Diagnose ungewiss: Welche Therapieformen können Sie empfehlen?

Dr. T. Graf: Zum einen gibt es Therapieformen wie Krankengymnastik mit Behandlungsverfahren wie Osteopathie, Cranio-Sakrale-Therapie, Bobath, Vojta, manuelle Therapie etc. aber auch Ergotherapie, Logopädie, Psychologie usw. Man sollte immer mit dem behandelnden Arzt klären, was einem gut tut und was ärztlich verordnet werden kann. Es gibt auch Therapieformen, die man anteilmäßig bis ganz selbst bezahlen muss. 
Eine weitere Möglichkeit ist eine neurologische Rehabilitation mit ihren vielfältigen Therapieoptionen. Hier gibt es all die o.g. Möglichkeiten unter einem Dach. Dies macht vor allem dann Sinn, wenn die ambulanten Möglichkeiten ausgereizt sind und trotz dieser Maßnahmen keine merkliche Besserung oder Stabilisierung erreicht werden konnte. 
Hilfreich ist eine neurologische Rehabilitation umso mehr, wenn die dort behandelnden Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte um die Besonderheiten der Erkrankung wissen und über eine gewisse Erfahrung in der Behandlung dieser seltenen Erkrankung verfügen. 
Das Ziel einer neurologischen Rehabilitation ist, den Alltag des Betroffenen zu erleichtern, ihm die soziale Teilhabe und wo immer möglich auch die berufliche Teilhabe zu ermöglichen. 


Diagnose ungewiss: Welche Vorteile bringt eine Behandlung in speziellen Rehabiltatsionseinrichtungen?

Dr. T. Graf: Der Erfolg einer Behandlung ist unter anderem davon abhängig wieviel Erfahrung die Ärzte und Therapeuten einer Einrichtung mit der jeweiligen Erkrankung haben. Bei seltenen Erkrankungen ist es nicht selbstverständlich, dass in jeder Rehaklinik Erfahrungen mit dieser Erkrankung vorliegen. Außerdem macht es bei einer seltenen Erkrankung, um einen Austausch Gleichgesinnter untereinander zu ermöglichen Sinn, die Betroffenen in ausgewählten Kliniken zu bündeln, da ansonsten keine krankheitsspezifischen Gruppen gebildet werden können. 
Wir versuchen den Austausch Betroffener untereinander zu fördern indem wir in unserer Klinik eine Gruppe anbieten, in der dies unter ärztlicher Supervision stattfinden kann.
Später ist den Betroffenen anzuraten, sich in ihrem Alltag einer Selbsthilfe-Gruppe anzuschließen um auch hier den Austausch mit Gleichgesinnten beizubehalten.
Was die zu ergreifenden Maßnahmen in der Reha betrifft zeigt sich, dass auf Grund der vielen unterschiedlichen Beschwerden eine intensive Abstimmung mit dem Patienten unvermeidlich ist. In kontinuierlicher Rückmeldung durch den Betroffenen muss dann ggf. der Therapieplan angepasst werden.

Diagnose ungewiss: Seltene Erkrankungen stehen aktuell mehr im Fokus als jemals zuvor. Auch das Bundesministerium für Gesundheit fördert Projekte, die eine Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen verbessern. In welchem Gesamtverhältnis stehen seltene Erkrankungen?

Dr. T. Graf: Wenn wir davon ausgehen, dass weltweit ca. 30.000 Krankheiten bekannt sind, dann zählen aktuell mehr als 6.000 zu den seltenen Erkrankungen.

Diagnose ungewiss: Welche Charakteristika unterscheiden diese beiden Gruppen?

Dr. T. Graf: Eine seltene Erkrankung liegt dann vor, wenn nicht mehr als 50 von 100.000 Menschen an dieser Erkrankung leiden. 
Scheinbar hängt die Häufigkeit der Syringomyelie auch von ethnischen Faktoren ab. So wurde sie in Japan 1995 mit einer Häufigkeit von 1 zu 100.000 angegeben, bei der pazifischen Bevölkerung 2006 mit über 18 pro 100.000. Laut orphanet (Anmerk. der Redaktion: Das Portal für seltene Krankheiten und Orphan Drugs) liegt die Häufigkeit zwischen 1-9 pro 100.000. 

Diagnose ungewiss: Lieber Herr Dr. Graf zum Schluss habe ich noch eine Frage, die mich schon lange sehr beschäftigt. Wir haben zusammen an einem Vortrag Thema „Kann man eine Chiari essen? - verdauen und jemals wieder ausscheiden?“ gearbeitet Was können Sie uns heute dazu sagen?

Dr. T. Graf: Naja … der Titel des Vortrags kam dadurch zustande, dass viele Menschen das Wort „Syringomyelie“ nicht aussprechen können und „Chiari“ mit Chia-Samen verwechseln. Chia-Samen sind ja im wahrsten Sinne des Wortes momentan in aller Munde. Vortragstitel sollen ja neugierig machen und Menschen auch mobilisieren hinzugehen. Das war eigentlich der Hintergrund für diese etwas ungewöhnliche Überschrift. 


Diagnose ungewiss: Sehr geehrter Dr. Graf, vielen Dank für Ihre Zeit, die vielen Informationen, Tipps und Hinweise. Ich bedanke mich im Interesse aller Betroffenen für Ihr Engagement in unserer Sache!



Ein großes Dankeschön an Hr. Dr. med. Tilo Graf für die Bereitschaft und Zeit dieses Interview zu führen!

Weiterführende Informationen zu diesem und vielen anderen Themen finden sie unter: https://www.reha-badkoetzting.de/informationen/broschueren/

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Chefarzt Dr. med. Graf Bad Kötzting Syringomyelie
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